Das Kakuma Refugee Camp im ostafrikanischen Kenia ist mit über 180 000 Internierten eines der größten Lager für geflüchtete Menschen weltweit. Wie die Berichte aus Moria auf Lesbos im vergangenen Jahr erschreckend gezeigt haben, birgt das Lagerleben alltägliche Gewalt und materielle Miseren – so auch in Kakuma. Sexuell und geschlechtlich marginalisierte Menschen sind dabei besonders betroffen von dieser Gewalt, in Form von häuslicher Unterdrückung, struktureller Verelendung oder offenen Angriffen durch andere Geflüchtete sowie durch das Lagerpersonal. Viele der queeren Menschen in Kakuma sind aus dem benachbarten Uganda geflohen, das spätestens mit den Gesetzesänderungen 2014 («Kill the gays»-Bill) und sich häufender Selbstjustiz für die queere Community zunehmend unsicherer wurde. Die Gefahr hat sich mit der Flucht nach Kenia kaum gemindert. Allein in diesem Jahr kam es zu mehreren Brandanschlägen, Messerangriffen und anderen Gewaltexzessen.

Jüngstes Todesopfer ist Chriton «Trinidad» Atuhwera. Der Aktivist erlag aufgrund miserabler medizinischer Versorgung am 12.  April dieses Jahres den Folgen eines queerfeindlichen Angriffes. In den Monaten vor seiner Ermordung war ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit mit ihm in Kontakt. Ein Teil der Informationen stammt aus einem zweistündigen Interview mit Atuhwera im Januar 2021.

Gemeinsam kämpfen

Atuhwera war nicht der einzige Aktivist in Kakuma. Der Widerstand der Betroffenen ist groß. Eine Gruppe von etwa 200 queeren und solidarischen Menschen protestiert seit einigen Jahren gegen die alltägliche Gewalt und fordert von der Lagerleitung des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), das Camp zu evakuieren. So auch im Mai 2020, als ein Dialog zwischen Aktivist*innen und führendem Lagerpersonal stattfand. Nachdem letzteres sich erneut aus der Verantwortung gezogen und den Schutz der queeren Internierten verweigert hatte, wurden erstere durch die kenianische Polizei mit Tränengas und Pfefferspray gewaltsam in ihre Unterkünfte zurück gezwungen. Ein Kleinkind wurde dabei tödlich verletzt. Seither versuchen die Aktivist*innen eine Öffentlichkeit über Soziale Medien zu schaffen und konnten damit ein solidarisches Netzwerk aufbauen, das sie mit Spenden unterstützt und Druck auf den UNHCR ausübt.

Die Evakuierung jedoch blieb aus: Die Gruppe wurde in Block 13 verlegt, ein strukturell unterversorgter Teil des Lagers, wo die Geflüchteten nun bei Regen und Sandstürmen in gerade einmal sieben undichten Baracken leben müssen. Aufgrund der Stigmatisierung ist es nahezu unmöglich, Geld zu verdienen und regelmäßige Raubüberfälle verstärken die materielle Verelendung.

«I come from one of the richest families in my country but guess what – I don‘t have anything to eat.» (Atuhwera)

Besonders die körperliche Gewalt hat sich potenziert. Das UNHCR unterlässt dabei nicht nur jegliche Schutzmaßnahmen, sondern auch eine angemessene medizinische Hilfe für Überlebende. Erst Tage nach dem Angriff auf Atuhwera wurde er ins lokale Krankenhaus und später nach Nairobi gebracht, wo er aufgrund unzulänglicher Behandlung verstarb. Sein Tod hat die queere Community in Kakuma schwer erschüttert, trotzdem – oder gerade deshalb – kämpfen sie weiter für ihre Evakuierung.

Heteronormativität als Machtstruktur

Um die Gewalt gegen queere Geflüchtete einordnen zu können, ist es wichtig, die zugrundeliegenden Machtstrukturen zu verstehen. Wieso sehen sich die Täter*innen – seien es andere Geflüchtete, die Polizei oder das Lagerpersonal – legitimiert, diese Gewalt auszuüben oder Hilfe zu unterlassen? Die Macht allein ökonomisch oder staatlich zu verorten würde hier deutlich zu kurz greifen. Auch wenn beide Faktoren (hier materielle Verelendung und Polizeigewalt) durchaus einflussreich sind, ist die Machtstruktur weitaus komplexer. Sie lässt sich als gesamtgesellschaftliches Disziplinarsystem erklären, das auf Basis eines heteronormativen, vermeintlichen Konsenses funktioniert. Heterosexualität und damit auch binäre Cis-Geschlechtlichkeit werden als Normen konstruiert und jegliche Abweichung diszipliniert, also bestraft.

Dabei nimmt der Staat eine zentrale Rolle ein, jedoch zeigt das Beispiel in Kakuma, dass die Bestrafung nicht bloß institutionell erfolgt. Besonders andere Internierte übernehmen diese Funktion durch ihre regelmäßigen Anschläge auf den Block 13 und vollstrecken damit den vermeintlichen Konsens.

*«Being a gay man, it means I don‘t deserve to live. (...) They swore a vow to kill. *They said they wanna kill each and every person they can get.»

Die Lagerpolitik komplementiert die Pogrome zu einem tödlichen Disziplinarsystem: Der Block 13 ist zwar räumlich isoliert und damit leichter zu überwachen, durch die fehlenden Schutzmaßnahmen wird die Community jedoch noch stärker zur Zielscheibe. Organisierte Aufstände werden obendrein durch materielle Verknappung erschwert und im Zweifelsfall brutal niedergeschlagen.

Heteronormativität kann als elementarer Bestandteil kollektiver Identität verstanden werden. Diese wird oftmals durch Gegensätzlichkeit konstruiert, wobei in diesem Fall Heterosexualität als Teil der kollektiven Identität definiert wird. Der Ausschluss von Homosexualität (und Queerness im Allgemeinen) stellt dabei eine Notwendigkeit dar, um die Identitätskonstruktion aufrecht zu erhalten, da diese nur in Abgrenzung funktionieren kann. Was auf den ersten Blick abstrakt klingt, hat eine große politische Relevanz:

Beispielhaft lässt sich dieser Mechanismus an der ugandischen Politik verdeutlichen, vor der viele der Aktivist*innen geflohen sind. Seit den 1990ern unternahm die Regierung mehrfache Vorstöße, um Queerness weiter zu kriminalisieren und zu verfolgen. Der heteronormative Diskurs um Identität erweist sich hier als überaus nützlich, da die Regierung mit queerfeindlichen Gesetzen die vermeintlich wahre ugandische oder gar «afrikanische» Identität auf ihrer Seite verorten kann. Damit verschafft sie sich politische Legitimität in der Dominanzgesellschaft, die sich durch mediale Hasskampagnen, Massenoutings und Selbstjustiz an der Verfolgung beteiligt. Ähnliche Dynamiken finden sich auch in der kenianischen Politik und in kleinerem Ausmaß auch im Lagerkontext in Kakuma wieder. Die Vollstreckung des heteronormativen Disziplinarsystems bedeutet, sich der kollektiven Identität zuzuordnen und damit gesellschaftliche Macht zu erhalten.

(Neo-)Koloniale Einflüsse

In westlichen Identitätsdiskursen ist Heteronormativität noch immer fester Bestandteil. Und auch wenn es bereits vergessen scheint: In Deutschland wurden Homosexuelle noch bis 1994 strafrechtlich verfolgt. Die queerfeindlichen Gesetze in Uganda und vielen anderen ehemaligen Kolonien wurden analog zu Europa erstmals durch die Kolonialmächte installiert. Selbstverständlich haben sich nach der Dekolonisierung regionale Eigendynamiken entwickelt, die nicht mehr alleine auf die Kolonialherrschaft zurückzuführen sind. Teile dieses Erbes wurden jedoch bis heute weitergetragen. Seit einigen Jahren versuchen US-Evangelikale darüber hinaus Einfluss auf den Diskurs in Uganda und in anderen Ländern zu nehmen. Eine Studie des sambischen Menschenrechtsaktivisten Kapya Kaoma deckte 2011 rechte christlich-fundamentalistische Netzwerke auf, die unmittelbaren Einfluss auf queerfeindliche Gesetzes­entwürfe hatten. Diese Einflussnahme hat kontinentale Auswirkungen: *

*«My own president of Uganda goes to East, West, North, South of the African continent, advocating against homosexuality.»

Queerness wird dabei als «unafrikanisch» geframed, wodurch die westliche Einflussnahme auf die eigene Politik verschleiert wird. Politische Interventionen im Namen der Menschenrechte, wie die Aufkündigung sogenannter Entwicklungshilfen aus dem Globalen Norden, verschärfen diesen Diskurs meist noch. Eine Regierung kann sich dadurch als «Verteidigerin der afrikanischen Identität» gegenüber Europa inszenieren. Obendrein verkennen solche Interventionen die Mehrfachbetroffenheit queerer Menschen, die durch die ökonomische Marginalisierung häufiger auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind.

Solidarische Handlungsansätze

Für die globale Solidaritätsarbeit eröffnet sich somit ein gefährliches Spannungsfeld. Gewaltvolle Heteronormativität international zu bekämpfen ist ein wichtiger Bestandteil linker Politik. Viele queere, afrikanische Aktivist*innen kritisieren jedoch die Einseitigkeit, mit der sich weiße Menschen aus dem Globalen Norden über Queerfeindlichkeit auf dem afrikanischen Kontinent empören. Dabei würde zu wenig die eigene Heteronormativität sowie die kolonialen Verstrickungen reflektiert und die Menschenrechtslage in Afrika obendrein rassistisch verallgemeinert. Solidaritätsarbeit fängt also dabei an, die eigene koloniale Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten und Neokolonialismus – einschließlich hegemonialer «Menschenrechtspolitik» – entgegenzutreten. Statt Opferinszenierung ist es wichtiger, lokale Widerstandsgruppen und die Kämpfe queerer Menschen zu unterstützen.

Diese kennen ihre Bedürfnisse selbst immer noch am besten: Die Aktivist*innen aus Block 13 brauchen jeden öffentlichen Protest gegenüber den Vereinten Nationen, besonders dem UNHCR Kenia und sind dringend auf Spenden angewiesen.

«We came here to be free. We never came here to be caged!»